Impuls zum 31. August 2025
Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster
Die ersten Plätze
Evangelium nach Lukas 14,1.7-14
„Als Jesus an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers zum Essen kam, beobachtete man ihn genau. Als er bemerkte, wie sich die Gäste die Ehrenplätze aussuchten, nahm er das zum Anlass, ihnen eine Lehre zu erteilen. Er sagte zu ihnen: Wenn du zu einer Hochzeit eingeladen bist, such dir nicht den Ehrenplatz aus. Denn es könnte ein anderer eingeladen sein, der vornehmer ist als du, und dann würde der Gastgeber, der dich und ihn eingeladen hat, kommen und zu dir sagen: Mach diesem hier Platz! Du aber wärst beschämt und müsstest den untersten Platz einnehmen. Wenn du also eingeladen bist, setz dich lieber, wenn du hinkommst, auf den untersten Platz; dann wird der Gastgeber zu dir kommen und sagen: Mein Freund, rück weiter hinauf! Das wird für dich eine Ehre sein vor allen anderen Gästen. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt, wird erhöht werden. Dann sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“
Es gibt Erzählungen und Gleichnisse im Evangelium, die schlaglichtartig unsere gegenwärtige Situation deutlich machen. Manchmal braucht Jesus drastische Bilder für seine Botschaft, manchmal unscheinbare, stille, so wie diese kleine Beobachtung von dem Streben nach den ersten Plätzen. Die aber hat es in sich: Der Kampf um die ersten Plätze geht wie eine blutige Spur durch die Menschheitsgeschichte, von Kain und Abel bis zum atomaren Wettrüsten.
Heute am 6. August 2025, in der Vorbereitung meines Impulses für den 31. August, beginne ich neu nachzudenken über diesen alten Text, heute am 6. August, dem 80. Jahrestag der ersten Atombombe auf Hiroshima, an den viele Mahnwachen und Gottesdienste erinnern. Das „nukleare Schutzschild“, das unsere offizielle Politik noch weiter durch Atomwaffen in Deutschland verstärken will, was ist das anderes als eine Drohung mit Völkermord, also mit einem Menschheitsverbrechen, weil es wahllos Menschen vernichtet, weite Gebiete verseucht und unbewohnbar macht. Die heutigen Atomwaffen sind ja noch um ein Vielfaches stärker als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki. Man sagt natürlich: Das ist nur eine Drohung, damit der Gegner keine Atomwaffen einsetzt. Aber eine Drohung ist ja nur glaubwürdig, wenn man auch bereit ist, diese Waffen selber als Antwort einzusetzen. Dann ist die Vernichtung sogleich weltweit. Somit ist die Drohung selber schon ein Verbrechen. „Schon der Besitz von Atomwaffen ist unmoralisch!“ (Papst Franziskus) Ich will nicht auf diese Weise verteidigt werden.
Nicht nur bei dem Wettrüsten, sondern vielfach im Militärbereich: Wieviel schöpferische Phantasie, wieviel Forschung, wieviel Geld und Kraft, wieviel Ressourcen werden dafür verbraucht, die dann im sozialen Bereich fehlen! Es ist wie ein leidenschaftlicher Traum: größer zu sein als andere, schöner, reicher, mächtiger, oben oder vorne zu sein. Das lassen wir uns etwas kosten! Der Sieger steht oben auf dem Treppchen. Der Zweite ist oft schon der Verlierer. Die Starken brauchen die Schwachen, die Machthaber brauchen die Unterdrückten, die Reichen die Armen, die, die oben sind, die anderen da unten, sonst würde ja nicht deutlich, dass sie die Guten, die Besseren sind. Rassismus grassiert: Macht über die, die anders sind. Ähnlich auch im Bereich der sexuellen Orientierung: Ausgrenzung und Hass gegen die, die anders sind, gegen queere Menschen. Ganz besonders schlimm wird es, wenn sich auch religiöse Gefühle oder ein fanatisches Sendungsbewusstsein in diese Machtkämpfe mischen. Jede Macht hat eine große Verführungskraft. Macht über Menschen hat offenbar ihren eigenen Reiz, der erbarmungslos macht.
Der Kampf um die ersten Plätze, vorgeführt von Putin und Trump in Alaska. Aber so kann man auch unser ganzes Wirtschaftssystem beschreiben, unsere Parteien- und Wahlkämpfe, die vielen Bürgerkriege, aber auch die Fremdenfeindlichkeit in unserem Land, Machtkämpfe am oder um den Arbeitsplatz oder in der eigenen Familie. Die Methoden meines Kampfes werden dann zweitrangig. Vieles geschieht gegen das geltende Völkerrecht und gegen die Menschenrechte. Mit der Polemik gegen Ausländer kann man sogar bei Wahlen gewinnen. Wo bleiben die Opfer? Es sind wieder die Kleinen und Armen, die Frauen und Kinder zuerst. Sie sind höchstens „Kollateralschäden“, wie man die zivilen Opfer menschenverachtend nennt, so im Ukrainekrieg wie in Gaza. Doch das fängt schon an beim Mobbing, wo oft die schwächeren Kinder oder der lästige Mitarbeiter zum Außenseiter gemacht werden, auf dessen Kosten man sich austoben kann. Traditionell haben die Männer Macht über (ihre) Frauen. Ich war erschrocken über die Zahl der Frauenmorde in Deutschland. 2023: Jeden Tag werden 140 Mädchen oder Frauen Opfer einer sexuellen Straftat, fast jeden Tag wird eine Frau ermordet, fast immer von ihrem Partner.
Die Kirche darf sich da nicht aufs hohe Ross setzen und andere verurteilen. Denn das gleiche gilt auch für die Kirche selbst, ihre Geschichte und Gegenwart: Konfessionskriege, Kreuzzüge und Ketzerverbrennungen, Kampf um die Macht, Kampf um die ersten Plätze, Anpassung, um nach oben zu kommen, Koalition mit den Mächtigen, Glaubensbehörden in altem oder neuem Gewand, Schweigegebote, Macht durch Geld und Personalentscheidungen. Die kirchliche Rangordnung ist durch das Kirchenrecht und durch viele Farben und Titel gekennzeichnet. Papst Franziskus hat immer wieder gegen den Klerikalismus gepredigt, hat aber an seiner eigenen exklusiven Macht über die Kirche nicht gerüttelt. Die sexuellen Verbrechen vor allem an Kindern und Jugendlichen und das Verdrängen dieser Verbrechen schreien zum Himmel. Auch da ist geistliche Macht am Werk, ebenso wie bei der Verweigerung der Weihe für Frauen.
All das beginnt schon im Denken, in den geheimen Wünschen, in unserer Angst, selber keinen richtigen Platz zu finden. In dieser Angst machen wir uns gegenseitig das Leben schwer. In unserer Abiturzeitung stand über einen Mitschüler: „Alles strebet steil nach oben. Obensein bedeutet Glück. Päulchen läuft da eben mit.“ Wir alle laufen da eben mit. Der tiefere Grund für all das liegt darin, dass wir nicht in uns selber ruhen, dass wir für unsere Selbstbestätigung die anderen (ge-)brauchen. Wenn wir Angst haben, keinen Sinn finden in unserem Leben zu finden, dann wird der Kampf um die ersten Plätze zur fehlgeleitete Sinnsuche und Selbstbestätigung.
Da ist die Einladung Jesu befreiend: Jeder und jede hat Platz an seinem Tisch. Es geht bei ihm ja nicht um eine Regel für die besonders Schlauen: Setz dich unten hin, damit der Gastgeber dich vor aller Augen nach oben bittet und so dein Ehrgeiz noch mehr befriedigt wird. Jesus geht es nicht um eine gesellschaftliche Anstandsregel. Jesu Wort sagt vielmehr: Die Kleinen, die Opfer, die zu kurz Gekommenen, - die bekommen die ersten Plätze. Keiner braucht Angst zu haben, bei ihm keinen Platz zu finden. An diesem Tisch kann man keinen Platz pachten. Alle Plätze werden nur verschenkt. Das befreit von dem inneren Druck der Selbstbehauptung vor Gott und den Menschen. Ehrgeiz und Berechnung sind da überflüssig.
Wenn wir das lernen, dann können wir auch anders miteinander umgehen, dem anderen Platz einräumen in unserem Leben, unseren eigenen Platz wahrnehmen im Miteinander der Menschen, gewaltfreie Wege des Umgangs miteinander finden, auch wo es um nötige Auseinandersetzungen um den richtigen Weg oder die richtige Entscheidung geht. Es ist ja wichtig, dass ich meine Kräfte und Möglichkeiten, meine Begabungen mit einbringe in das Miteinander der Menschen. Jedem und jeder ist das Charisma geschenkt, damit es anderen nützt (1 Kor 12,7). Das gilt es einzubringen, aber nicht auf Kosten anderer. Es gibt so viele Menschen, die sich gewaltfrei für ein friedliches Miteinander der Menschen und Völker einsetzen. Das gilt sowohl im Privatkreis, wie - Gott sei Dank! - auch in Wirtschaft und Politik, in Gesellschaft und Familie, auch in unserer Kirche!
Nicht auf neuen moralischen Druck zielen die Worte Jesu. Sie wollen uns nicht zu einer verkrampften Haltung verleiten, zu einem „Tun als ob“. Sie wollen uns frei machen füreinander. Die anderen sind nicht mehr die möglichen Konkurrenten, die ich argwöhnisch im Auge haben muss, die ich unter mich zu kriegen versuche. Ich kann sie als Freundinnen und Freunde gewinnen. Wer auf dem ersten Platz sitzt, ist ja zugleich furchtbar einsam. Er will ja keinen neben sich haben. Wer darauf vertraut, dass Gott ihm einen Platz an seinem Tisch schenkt, der kann auch „Blinde, Lahme, Arme und Krüppel“ zu sich einladen, ohne Angst zu haben zu kurz zu kommen. Der kann sich für die Flüchtlinge in unserem Land einsetzen, für eine heile Umwelt, in der man leben kann, für Gerechtigkeit im weltweiten Sinne, damit neue Wege gefunden werden können, wie alle Menschen frei und menschenwürdig miteinander leben können. Wer sich von Jesus einladen lässt, der kann dies alles gelassen und voll Vertrauen tun, auch wenn ihm das in unserer Welt und Gesellschaft eher die hinteren Plätze zuweist.
Wer sich von Jesus einladen lässt, der kann frei werden wie er, der sich selber auf den letzten Platz gesetzt hat. Deswegen konnte er so viele Menschen frei machen zu einem Leben ohne Angst um sich selbst. Wenn das so bei Gott ist, an seinem Tisch, kann dann das nicht auch ein wenig davon in unser menschliches Miteinander ausstrahlen? Er will uns dazu befreien. Das wird dann auch heilsam sein für uns selbst, für unsere Familien, für unsere Gemeinden und unsere Kirche. Dann können wir mithelfen, unsere Welt einzurichten als einen Tisch, an dem keiner zurückgewiesen wird.
Gebet
Guter Gott,
der Kampf um die ersten Plätze ist so verführerisch!
Aber er ist auch blutig und menschenverachtend.
Jesus hat sich auf den letzten Platz gesetzt.
Dadurch konnten die Armen,
denen die Gesellschaft oder die Frommen
die letzten Plätze zugewiesen hatten,
höher emporrücken.
Schenke uns die Freiheit Jesu!
Lass uns mithelfen, dass die, die unten sind,
die keine Aussicht mehr für ihr Leben haben,
höher emporrücken können
in unserer Gesellschaft, in unserer Kirche.
Dann kann wahrer Friede werden unter Menschen und Völkern.
Dann werden auch wir einen Platz finden
an deinem Tisch.