Responsibility to Protect
Fabian Sieber
Nicht nur der Glaube an Gott, auch die Haltung des Pazifismus fällt immer dann besonders leicht, wenn sie nicht als ein Abstraktum im Kopf existiert, sondern sich als eine Intuition des Herzens quasi von selbst ergibt. Schwierig wird es nur dann, wenn die Realität ganz unpazifistisch zuschlägt und liebgewordene Gewissheiten in Frage stellt.
So erging es mir im Jahr 2014: Der Islamische Staat (IS) eroberte große Teile von Syrien und hatte im Irak ein Kalifat errichtet. Berichte über schwerste Kriegsverbrechen erreichten Europa und plötzlich bestand ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass eine militärische Intervention und umfangreiche Waffenlieferungen eine absolute Notwendigkeit darstellten.
Dieser Position schloss sich dann auch die Deutsche Bischofskonferenz an, die am 26.9.2014 erklärte, „dass die internationale Gemeinschaft nicht wegsehen darf, wenn eine illegitime Macht sich große Gebiete aneignet und ein Terrorregime errichtet, das nicht davor zurückschreckt, missliebige Bevölkerungsgruppen zu vertreiben und zu massakrieren. Gemeinsam mit den irakischen Bischöfen bejaht die Deutsche Bischofskonferenz daher die Bemühungen vieler westlicher und arabischer Staaten, die Ausbreitung des Gebildes, das sich 'Islamischer Staat' nennt, aufzuhalten und den von ihm ausgehenden Terror zu stoppen.“
In der damaligen Situation war diese Positionierung intuitiv leicht nachzuvollziehen. Schon damals, erst recht aber mit etwas zeitlichem Abstand, stellt die Einordnung dieser Aussagen in den Zusammenhang der katholischen Friedensethik jedoch eine Herausforderung dar.
Dies gilt, obwohl der von den deutschen Bischöfen entwickelte Rahmen zunächst eine konventionelle Deutung des Problems ermöglicht: Schon in Gerechter Friede (II.7.3 / Ziff 150-161) wurde unter dem Hinweis auf die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft die Möglichkeit einer solchen Situation erwogen und in der aktuellen friedensethischen Diskussion ist das Theorem der responsibility to protect unumstritten. (siehe Schockenoff, Gewalt 2019; 604-612). Ein Novum war die Stellungnahme der deutschen Bischöfe jedoch in so fern, als dass erstmals eine militärische Intervention, die außerhalb des UN-Systems beschlossen und durchgeführt wurde, als eine ethisch gebotene Maßnahme gedeutet wurde. Noch in Gerechter Friede wurde eine solche Möglichkeit strikt abgelehnt. Viel mehr sei „[j]egliches militärische Handeln […] an das geltende Friedenssicherungsrecht und die dort festgelegten Verfahren gebunden. […] Unklarheiten in diesem Bereich tragen die Gefahr in sich, dass das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Gewaltverbot ausgehöhlt wird.“ (GF 154)
Die IS-Entscheidung der deutschen Bischöfe mag damit intuitiv richtig und nachvollziehbar gewesen sein. - Die Gefahren der Entrechtlichung der internationalen Beziehungen steht dennoch im Raum.
Dies gilt erst Recht, wenn man die 20 Jahre, die seit der Veröffentlichung von Gerechter Friede vergangen sind, Revue passieren lässt. Sicher war es keine friedliche Zeit. Kriege auf die das internationale Kriegsvölkerrecht angewandt werden können, fanden in ihr dennoch nicht statt. So mag die Genfer Konvention und ihre Zusatzprotokolle das bis heute einzige Vertragswerk sein, dass universell anerkannt ist – in den Konflikten an denen sich Soldaten der Bundeswehr in den vergangenen Jahren beteiligten, hat sie dennoch eine untergeordnete Rolle gespielt: Bundeswehrsoldaten kämpfen nicht in Kriegen, sondern in Konflikten, ihre Gegner sind keine Kombattanten, sondern Kriminelle und wenn deutsche Soldaten getötet werden, dann nicht in Gefechten, sondern durch terroristische Anschläge.
All diese Unterscheidungen sind nicht einfach Ausdruck unterschiedlicher Sprachspiele, sondern Kennzeichen unterschiedlicher Realitäten: Wie im 19. und frühen 20.Jahrhundert das Kriegsvölkerrecht keine Anwendung auf die grausam geführten Kolonialkriege der Europäischen Mächte fand (vgl. Schockenhoff, Gewalt 2019; 277-280), so findet es heute in den verschiedenen militärischen Interventionen die unter dem Vorzeichen der responsibility to protect geführt werden nur eine begrenzte Anwendung.
Die deutschen Bischöfe haben in ihrer Stellungnahme zum IS an diese koloniale Tradition angeknüpft und den Angehörigen des IS nicht nur die von ihnen begangenen Verbrechen vorgehalten, sondern den IS zugleich als eine „illegitime Macht“ und ein abstraktes „Gebilde“ diskreditiert. Ein Gebilde, dass ein „Terrorregime“ errichtet hat, das seine Gegner „massakriert“. Unter welchen Vorzeichen ist mit einem solchen Gegner ein Friedensschluss möglich? Und weshalb sollte ein so ein Terrorist überhaupt die Waffen niederlegen, wenn seine einzige realistische Zukunftsperspektive darin besteht als Krimineller zum Tod verurteilt zu werden?
Intuitiv habe ich auf diese Frage keine Antwort. Ich hoffe jedoch schon bald im neuen Friedenswort der deutschen Bischöfe eine solche zu finden.